Wann ist ein Lied wirklich fertig?
Wenn jemand anderes den Song das erste Mal hört? Oder wenn das Stück auf einem Tonträger erscheint? Der Musiker Jon Flemming Olsen hat den 13 Liedern seines dritten Soloalbums bewusst viel Zeit zum Reifen gelassen. „Bei den Konzerten zu meiner zweiten Platte habe ich gespürt, wie die Songs noch einmal eine ganz eigene Dynamik entwickeln. Sie verändern sich mit den Reaktionen des Publikums‟, erzählt Olsen.
Deshalb ist er Anfang 2019 mit seinem neuen Material nicht geradewegs ins Studio gegangen, sondern hat seine Singer-Songwriter-Oden live ein Jahr lang atmen, fliegen und auch mal scheitern lassen – „bis sie so richtig schön rundgespielt waren‟. Um diese beglückende Energie des Moments festzuhalten, hat Olsen seine Lieder live aufgenommen. An nur einem Abend, vor vollem Saal in seiner Heimat Hamburg, in Begleitung eines Streichquartetts. Ein wahrhaftiges Wagnis. Ganz so, wie der Albumtitel es beschreibt: „Mann auf dem Seil‟.
Auch musikalisch und inhaltlich ähneln die neuen Lieder durchaus einem Drahtseilakt. Mal fokussiert auf den Weg, mal in den Abgrund blickend, mal traumtänzerisch leicht. Und immer mit dem Bewusstsein, dass nichts sicher ist im Leben. Dass wir ständig balancieren müssen, um voranzukommen. Ob sich da ein einsamer Tropf vergebens um die Rückkehr eines geliebten Menschen bemüht („Wenn Du wiederkommst‟). Oder ob jemand augenzwinkernd anzweifelt, inwiefern der Nachwuchs tatsächlich ein steter Quell der Freude ist („In zwanzig Jahren‟). Und auch die eigene Vita kommt bei Olsen auf den poetischen Prüfstand: In „König in meiner Baracke‟ singt er sich frei von den Zwängen, die sich mit schnellem Ruhm einstellen können.
Wir erinnern uns: 2006 hatte seine Country-Band Texas Lightning mit „No No Never‟ einen Hit, der sich 38 Wochen in den Charts hielt und Deutschland beim Eurovision Song Contest repräsentierte. „Ich war kurz Popstar, aber dann zum Glück nicht mehr‟, sagt Olsen. „König in meiner Baracke‟ ist eine Art längst überfälliger Abschiedssong von dieser vermeintlich glamourösen Welt, in die er für einen Moment hineingeraten war. Olsen will keinen schönen Schein. Er möchte Geschichten erzählen. Vielschichtig und eigensinnig. Sei es als geerdeter Imbisswirt Ingo, der im Fernsehen mit „Dittsche‟ das wahre Leben beschnackt. Sei es als Grafikdesigner, der ausdrucksstarke Plattencover erschafft. Oder eben als Multiinstrumentalist und Vollblutmusiker, der sich mit seiner Kunst aufrichtig auf die Suche begibt.
Um Lieder für sein drittes Album zu schreiben, zog sich Olsen 2018 in Dänemark in eine Hütte am See zurück. Seine Begleiter: Gitarren, Mandoline, Irish-Bouzouki und Schlaginstrumente. „Songs zu schreiben, ist ein höchst mysteriöser Vorgang. Ich weiß selbst nie wirklich, was dabei herauskommt‟, erläutert Olsen. „Der Prozess, die eigene Seele so freizulegen, ist nicht immer angenehm.‟ Und so entstehen Nummern wie der zartbittere Folk-Walzer „Ich bau Dir ein Boot‟, die vom Schmerz zum Trost führen. Doch auch die Liebe hält Einzug in Olsens Œuvre. „Wie macht sie das?‟ ist ein ausgemachter Feel-Good-Song von einem, der vor lauter Verliebtsein abzuheben droht – Tanzlaune inklusive. „Ich taste mich langsam heran an das Genre des Liebesliedes. Ausschließlich über dieses Gefühl singen zu müssen, fände ich allerdings etwas ermüdend – mich beschäftigen noch so viele andere Themen.‟
Immer wieder klingt auf dem Album der Idealist und Sozialkritiker Olsen durch. In „Es wird etwas geschehen‟ krempelt er den deutschen Hang zur Sorge um und macht daraus eine beschwingte Hymne auf die nächste Generation. „Alles wahr‟ ist eine 1-a-Verschwörungspersiflage. Und „Wildes Tier‟ zeigt in dunkel leuchtenden Skizzen, wie in Menschen lange unterdrückter Groll ausbricht. „Die Decke unserer Zivilisation ist hauchdünn. Das Lied ist vielleicht auch ein Plädoyer dafür, das Archaische in uns zuzulassen, bevor sich der angestaute Frust ins Wutbürgerhafte verkehrt.‟ Bevor dieses Seil reißt, das eigentlich doch zwei Punkte verbinden soll, etwa das Ich mit dem Wir. Olsen ist einer, der an Solidarität glaubt. Der den Menschen vertraut, seinen Fans sowieso. Deshalb setzte er auch erneut erfolgreich auf das Prinzip Crowdfunding, um die Produktion von „Mann auf dem Seil‟ zu finanzieren.
Olsens Gesang lädt die neuen Lieder mit viel Wärme und Verve auf. Der Sound, der diese Zeitgeist- und Stimmungsstudien trägt, klingt allerdings opulenter denn je. Das liegt an den Streicherarrangements, die Traurigkeit wie Euphorie fein verstärken. Zwar ist Olsen seit Jahren geübter Soloseiltänzer und zieht als One-Man-Band durchs Land. Doch er ist zugleich ein Neugieriger, der das Abenteuer dem Komfort vorzieht. Und als er die exquisiten Musikerinnen und Musiker des Kammerensembles Konsonanz aus Bremen kennenlernte, war ihm schnell klar: „Ich möchte die große klangliche Umarmung. Das ist spannend.‟ So verbindet „Mann auf dem Seil‟ nun die Leidenschaft für Singer-Songwriter-Sound, Folk und Country mit einem intuitiven Gespür für eingängige Popmelodien, die dank der Streicher zum tief berührenden Ereignis werden. Ein überaus geglückter Balanceakt.